Die Methode der Systemaufstellungen wird weitverbreitet mit dem Namen Bert Hellinger verküpft. Aufstellungen "nach Hellinger" heißt es dann. Bestimmte Bereiche von Hellingers Konzeptualisierungen und Vorgehensweisen haben im deutschsprachigen Raum zu heftigsten Kontroversen und Polarisierungen zwischen Befürwortern und Gegnern dieses Ansatzes geführt. Hinzu kam die Auseinandersetzung, ob es sich hierbei um einen systemischen Ansatz handelt.
In diesem Band finden sich hochspannende Artikel, Diskussionen und Stellungnahmen von drei namhaften Heidelberger Systemikern Fritz B. Simon, Gunther Schmidt und Gunthard Weber (die in den Auseinandersetzungen bisher eher unterschiedlichen Lagern zugerechnet wurden) über die Aufstellungsarbeit. Sie setzen sich mit den Prämissen, den Wirkmechanismen und ihren unterschiedlichen Vorgehensweisen in der Aufstellungsarbeit jenseits vereinfachender und generalisierender Entweder-oder-Kontroversen auseinander und untersuchen ihre Kompatibilität mit der systemischen Therapie bzw. Beratung.
Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung der Diskussion, zur theoretischen Einordnung der Systemaufstellungen und zu ihrer Integration in den Bereich der Psychotherapie und der Beratung von Organisationen.
Fritz B. Simon, Gunther Schmidt, Gunthard Weber
Aufstellungsarbeit revisited ... nach Hellinger?
256 Seiten, Kt, 2005
€ 24.95 / sFr 44.00
ISBN 978-3-89670-486-3
Carl Auer Verlag
Auszug aus „ Ein Metakommentar“ von Matthias Varga von Kibéd
(mit freundlicher Genehmigung des Carl Auer Verlags, Heidelberg 2005)
1.1.3 Nichteinzelpersonenspezifische Wahrnehmungsformen
Gehen wir davon aus, dass das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung in der oben charakterisierten Weise existiert und (zum Mindesten ansatzweise) empirisch überprüfbar ist, so folgen daraus erhebliche und überraschende Änderungen für das Menschen- und Weltbild. Zunächst ist es nämlich, hat man einmal gesehen, wie außerordentlich leicht sich das genannte Phänomen erzeugen lässt, fast unglaublich, wieso die Betrachtung und Nutzung des Phänomens – jedenfalls in unserer Kultur – so wenig selbstverständlich ist, dass z. B. sogar erst eine neue Terminologie geprägt werden muss, um überhaupt darauf Bezug zu nehmen. Aus der Sicht der Strukturaufstellungs-arbeit vermuten wir, dass die Idee nichteinzelpersonenspezifischer Wahrnehmungs- und Empfindungsformen ein kultureller blinder Fleck ist, der seit einiger Zeit immer durchsichtiger wird. Zu dieser wachsenden Transparenz gehören nicht nur Holismus,Emergenztheorien, Systemtheorie, systemisches Denken und systemische Ansätze sowie die Kybernetik zweiter Ordnung im Allgemeinen, sondern, spezifischer für das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung, Martin Bubers dialogische Psychologie und seine Vorsicht vor einer Verdinglichung des „Zwischen“, in dem er das menschliche Unbewusste ansiedelt, ferner Wittgensteins Sprachspieltheorie und seine Zurückweisung des internen Charakters von Emotionen sowie sein Privatsprachenargument; des Weiteren ist dazu die wachsende Klarheit über nicht in üblicher Weise auf inhaltliche Information und Kommunikation reduzierbare Repräsentationseffekte zu rechnen, die durch die zunehmende Syntaktisierung des Vorgehens vom Psychodrama über die Rekonstruktions- und Skulpturarbeit, die Familien-aufstellungen, die Strukturaufstellungen und hier, wie uns scheint, bisher schließlich am deutlichsten in verdeckten syntaktischen Formen der Strukturaufstellungsarbeit sichtbar werden. Wir plädieren dafür, die Entwicklung von Begrifflichkeiten und die Untersuchung nicht-einzelpersonenspezifisch gegebener Wahrnehmungsformen als Desiderat zur Klärung der Grundlagen der Aufstellungsarbeit anzusehen. Höppners (2001) und Schlötters (2005) Untersuchungen stellen erste relevante größere Schritte in dieser Richtung dar; eine Vielzahl von erweiterten Vorexperimenten mit vorsystematischem Status erfolgten und erfolgen in der Strukturaufstellungs-arbeit. Die repräsentierende Wahrnehmung kann zwar in reduzierter Form durch komplexere Formen der hypnotherapeutischen Trance partiell in Einzelsettings rekonstruiert werden; dennoch wissen alle mit Aufstellungsprozessen etwas Vertrauten, dass wir, im Bild stehend und in Abhängigkeit von den anderen RepräsentantInnen, in ganz anderer und erheblich umfassenderer Weise über die aufstellungsspezifischen Empfindungen und Wahrnehmungen verfügen als außerhalb der Aufstellung, z. B. unmittelbar danach.
Fritz Simons Idee der koinästhetischen Wahrnehmung geht in eine verwandte Richtung, unterschätzt aber meines Erachtens mit ihrem Bezug auf prototypische soziale Lernprozesse die Spezifität der Körperempfindungs-modifikationen bei repräsentierender Wahrnehmung, worauf ja Gunthard Weber durch Erfahrungsbeispiele hinweist. Gunther Schmidts Versuch andererseits, durch seine Facettentheorie das Spezifitätsproblem zu lösen, wirft u. a. in der Frage danach, was die uns ausmachende Multiplizität von Anteilen denn am Zerfallen hindere, ähnlich tiefe philosophische, methodische und (system)theoretische Fragen auf, wie etwa die Frage nach dem Zusammenhalt von familienähnlichen Begriffen oder von Sprachspielen in einer Lebensform in der Spätphilosophie Wittgensteins. Gunthard Weber ist dagegen durch seine Erfahrungen mit und insbesondere Beobachtungen von hoher und aus dem kommunikativen Kontext schwer erklärbarer Spezifität der Reaktion von aufgestellten Personen vom Phänomen der nichteinzelpersonen-spezifischen Wahrnehmung weitgehend überzeugt – hier scheint mir die Vorstellung von Platzeigenschaften noch ein problematisches, partiell „vorsystemisches“ Konzept zu sein. Zusammenfassend gehört also aus Sicht der Strukturaufstellungen zu „nichteinzelpersonenspezifisch“ als Stattdessen die Idee der Abhängigkeit der aufstellungspezifischen Wahrnehmungs- und Empfindungsveränderungen vom Modellsystem; genauer noch die Abhängigkeit von den Zügen des Modellsystems, die für die Modellierung relevant sind, d. h., die im Sinne Wittgensteins „Symbol am Zeichen“ sind, nicht aber von den spezifischen Eigenschaften der im Prinzip austauschbaren RepräsentantInnen.…
3.1.2 Fehlende Würdigung der Hintergründe bei Hellinger
Die äußerst sparsamen Hinweise, die sich im Werk Hellingers zu den Wurzeln und Hintergründen seiner Arbeit finden – aber sie finden sich durchaus –, haben dazu geführt, dass viele Legenden über den Ursprung des Familienstellens entstanden sind. So sind vielen Familienaufstellern, die ihre Arbeit im Sinne von Bert Hellinger auffassen und sich auf ihn berufen, die Einflüsse von Virginia Satir, Les Kadis und Ruth McClendon, der Ericksonschen Hypnotherapie, Parallelen und Einflüsse aus dem Psychodrama Morenos, die Arbeit von Thea Schönfelder sowie die Rolle, die Begriffsbildungen und Ideen von Ivan Boszormenyi-Nagy bei der Entwicklung der Arbeit spielten, nicht oder kaum bekannt – wie ja auch etwa der umfangreiche eigenständige Beitrag Gunthard Webers zur Entwicklung der Organisationsaufstellungen oft fälschlich Hellinger zugeschrieben wird (oder für eigene Ansätze „gekapert“ wird). Bei der ausgeprägten Betonung der Würdigung von Vorfahren und Vorgängern ist dieses Vorgehen schon etwas verwunderlich und hätte eine kritische Behandlung verdient gehabt, auch wenn sich gewisse Ansätze dazu in den einleitenden Teilen des Buches finden. Eine gewisse Vorarbeit in dieser Richtung haben unter anderemUrsula Franke und Oliver König bereitgestellt, und Hellinger selbst gab in einem Interview nähere Auskünfte, die leider in der Mehrzahl seiner Bücher nicht zu Bezugnahmen auf die genannten Quellen geführt haben. Mir scheint aufgrund von Hellingers sehr kritischer Haltung zu Virginia Satir insbesondere die Würdigung ihres Einflusses auf die Entwicklung der Familienaufstellungsarbeit unzureichend hervorgehoben. Insbesondere die Vertreter der Grazer Schule (G. Baxa, S. Essen, C. Essen) haben zu einer Würdigung des Satir’schen Beitrags und der Verbindungen von Satir’scher Arbeit mit Aufstellungsarbeit viel beigetragen, und ebenso Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer.
Die Einfügung der Potsdamer Erklärung und von Gunthard Webers Stellungnahme dazu in 7.2 finde ich einen erfreulichen und wichtigen Schritt in diesem Buch. (Ich selbst habe die Potsdamer Erklärung mitformuliert und selbstverständlich unterzeichnet, ohne darin eine Leugnung von Verdiensten zu sehen, die Weber in 7.2 aufführt.)…
Natürlich ist nicht jedes Nichtwissen hilfreich, aber wird Wissen überbetont, entsteht Scham über Unwissen und damit, wie Spencer-Brown es ausdrückt (in den Notes zu Laws of Form) eine der wirksamsten Barrieren gegen jeden echten Lernfortschritt, wie es auch in einer Zen-Geschichte durch die Schwierigkeit, Tee in eine volle Schale einzugießen, demonstriert wird. Und sicher gibt es schädliche Formen von Verwirrung und Hilflosigkeit, aber das Wahrnehmen von Hilflosigkeit als Ausdruck der Einsicht, dass Aufstellungen und Interventionen allgemein Anregungen zu autopoietischen Prozessen sind und Perturbationen problematischer Muster, nicht aber gezielte Lenkungen eines Prozesses, kann ein großer Gewinn der Hilflosigkeit sein. Und der sufische Satz, dass sich aus der Knospe der Verwirrung die Blüte der Verwunderung erhebe, hat schöne Konsequenzen für die Haltung zum Aufstellen. Die seltsamen Fragen nach der Art der Wirkungen von Aufstellungen auf Systemmitglieder hat Insa Sparrer Anfang der 1990er- Jahre in einen überraschenden neuen Rahmen gesetzt, indem sie, als wir wieder einmal über Möglichkeiten der Antwort zusammen nachdachten, sagte: „Vielleicht stellen wir die ganze Zeit die falsche Frage. Wir gehen davon aus, dass wir getrennt sind, und fragen, wie die Verbindung zustande kommt. Vielleicht sollten wir lernen, öfter auch die umgekehrte Frage zu stellen.“ Die erste Denkweise nennen wir seitdem auch die Metapher der Trennung, die zweite die der Verbindung. Mit Viktor Frankls exzellenter Metapher vom räumlichen beidäugigen Sehen als Muster der Paradoxienlösung (der sich widersprechenden Bilder des rechten und linken Auges) suchen wir in der Strukturaufstellungsarbeit seitdem danach, was nun das beidäugige Sehen zur Metapher der Trennung und Metapher der Verbindung wäre – in der Theorie ist dies für uns verkörpert durch die Ideen der fünften Nichtposition des (negierten) Tetralemmas.“
(Prof. Dr. Matthias Varga von Kibéd)